von Günther Nessel und Dr. Uwe Lebok
Markenloyalität wird in Zeiten von Hyperwettbewerb, Verdrängung und zahllosen Wahlfreiheiten immer weniger vom Verbraucher gelebt. Marktforschungsuntersuchungen von K&A und anderen Instituten zeigen auf, dass Markentreue vor allem im Food & Beverage-Segment deutlich abnimmt. Je alltäglicher eine Kategorie ist, desto schwächer ist die Bindungsbereitschaft bei den Verbrauchern. Der Handel wird zudem aufgrund seiner Retailbrand- und Eigenmarken-Aktivitäten als ein Grund dafür genannt, dass klassische Marken in der Verbrauchergunst abnehmen: ‚Place & Price‘ in den Händen der Hersteller, bleibt nur noch ‚Product & Promotion‘ bei immer stärker sinkender Bereitschaft jüngerer Konsumenten, Werbung noch zuzuhören. Die Situation der Markenartikler im Lebensmitteleinzelhandel entwickelt sich prekär! Auch ein erstmaliger Stillstand des Eigenmarkenwachstums in 2015 (laut GfK minus 0,8 Prozent) und die vielfältigen Einlistungen von Markenartikeln bei Aldi schaffen voraussichtlich nur Anlass zur Atempause.
Der Grund: der Handel verschafft sich immer mehr Vertrauen. Er schenkt dem Verbraucher nicht nur übergreifend Alltagserleichterung beim Einkaufen, sondern nutzt stärker als noch vor 5 Jahren die Gunst der Stunde, um mit intelligent verzahnten Retailbrand- und Eigenmarken-Konzepten den Verbraucher einzuladen, sein Glück jenseits klassischer Markenartikel zu suchen. Dabei sind es vor allen Dingen die Mehrwert-Handelsmarken, die hier punkten können. Vertikale Kompetenzmarken und exzellent inszenierte und stark beworbene horizontale Erlebnismarken des Handels inszenieren sich gekonnt als wettbewerbsfähige Alternative zum etablierten Markenartikel. Ganz klar hilft ein wettbewerbsverzerrender Vorteil: der Handel kann für seine Eigenmarken eine Bühne der Inszenierung bieten, die dem Markenartikel nur bedingt zur Verfügung gestellt wird.
Der Mythos Marke wankt …
Früher war alles leichter! Das könnte aus dem Mund von Menschen der Kriegsgeneration stammen, umschreibt aber in gewisser Weise das „Jammertal“ der Markenartikler. Vor der Digitalisierung und einer multimedialen Beschallung der Endverbraucher war es leichter, die Konsumenten über die klassischen Kanäle zu erreichen. Da die Anzahl der Kanäle überschaubar war (vor allem TV, Print, Funk), der Konsument auch länger zuhörte (er las insgesamt mehr, zappte weniger weg, usw.), konnte eine Marke noch ausführlich erklären, was Verbraucher von dieser zu halten haben: Ich Marke, du Verbraucher (den ich nach meinen Vorstellungen erziehe).
Marken wie Landliebe, Rügenwalder Mühle, Milka, Dallmayr, Nimm 2, Beck’s u.v.a. konnten in solchen Zeiten ikonographisch und langfristig etabliert werden. Im Zeitalter von Multichannel, Wenig-Zeit-haben und Schnelllebigkeit von Moden und Trends hat sich die Bühne deutlich verändert: Nur schöne „emotionale“ Bilder zu zeigen und wenig haltbare Leistungsversprechen einer Marke zu senden, können recht schnell von Verbraucherseite dank dem World Wide Web in Echtzeit als Mogelpackung dekodiert werden.
Schöne Bilder alleine liefern Verbrauchern immer weniger einen Mehrwert. Insbesondere bei Generation Y (Geburtsjahrgänge 1980-1994) und den ihnen nachfolgenden GenZ: Werbung wird immer weniger geglaubt – geschweige denn: zugehört! Wenn die Bildwelten einer Markensprache aber die zeitgeistrelevanten Bedürfnisse fokussieren und ein Leistungsversprechen auch über persönliche Erlebnisse des Verbrauchers nacherlebt werden kann, dann „markiert“ eine solche Marke auch die Verbraucherwahrnehmung. Starke Marken erzählen Stories, bieten differenzierende Markenwelten, die für den Menschen auch erlebbar und damit nachvollziehbar sind: Ein Landliebe-Pudding schmeckt einfach deutlich besser, weil er nach traditioneller Art besonders gut gerührt wurde. Und bei EDEKA sucht und findet der Verbraucher schneller den Lebensmittelhändler, weil er gelernt hat, dass es dort „vermeintlich mehr“ Händler (als woanders) gibt, die ihre Lebensmittel lieben: Emotionales Kopfkino, psychologische Prädisposition und Erlebbarkeit der Leistungsversprechen!
Ein Joghurt, ist ein Joghurt, ist ein Joghurt!
Die wahrnehmbaren Unterschiede vieler Marken sind immer häufiger vom Konsumenten mit bloßem Auge nicht mehr erkennbar. Im Joghurtsegment ist für den Verbraucher schwer zu unterscheiden, was einen Ehrmann, Bauer oder Zott wirklich besser macht. Tradierte Images werden allzu oft nur (zu) vorsichtig weiterentwickelt und das bei Mopro, in der Kategorie, die der Verbraucher nach Süßwaren als die emotionalste und nach AfG innovativste erlebt. Kein Wunder also, dass der Eigenmarkenanteil hier besonders hoch ist. Ernüchternd für die Molkereiindustrie muss es dabei sein, dass sie in ihrer eigenen Kategorie, die sie jahrzehntelang mit einem der Top-3 stärksten Mediabudgets beworben hat, nicht von den Mehrwert-Eigenmarken, sondern von den Basis-Eigenmarken geschlagen wird. Dasselbe gilt auch für viele andere Kategorien. Was ist der zentrale Unterschied italienischer Hartweizennudeln bei Barilla, Buitoni oder Cucina? Oder bei Mineralwasser, Bier nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut, Butter, Weichkäse, Salami, Kekse – sofern nach Marken unterschieden wird? Alles irgendwie doch immer öfter austauschbar!
Auf der einen Seite sind viele Marken zu lange auf festgefahrenen Pfaden unterwegs gewesen; dem Verbraucher wurde unter dem Credo der Selbstähnlichkeit allzu oft nur „das Selbe“ geboten. Doch wie in jeder guten „Beziehung“ entsteht ohne Überraschung auch kein anhaltendes Interesse, geschweige denn Leidenschaft.
Im Nachkriegsdeutschland mit Identitätsfindung, Wiederaufbau und Wirtschaftswunder hatte noch die wachsende Anzahl an Markenprodukten den Menschen trendgerecht abgeholt, um dadurch für ihn neue (Konsum-) Werte zu schaffen. Diese Zeit hielt an, bis Ölkrise und konjunkturelle Einbrüche die Phase der Vollbeschäftigung ablösten. Vor genau 40 Jahren, im Jahre 1976, erobern bereits die ersten „weißen“ (Billig-) Marken des Handels außerhalb von ALDI die Märkte. Erst mit der Wiedervereinigung 1990 begann aber die rasante Wachstumsphase, die ab 2000 zu ersten „emotionalen“ Eigenmarken führen sollte.
Das Schlüsseljahr stellt aber 2005 dar: Mit „Wir lieben Lebensmittel“ wird kommunikativ die Phase eingeläutet, in welcher der Handel selbst Markenpolitik zur Chefsache macht. EDEKA waren die Ersten, die sich selbst als Marke nicht nur verstanden haben, sondern auch gegenüber dem Verbraucher konsequent kommunizierten und im Laden erlebbar machten. REWE und alle anderen Händler sollten folgen. LIDL zeigt dem Verbraucher seit 2015, warum sich LIDL lohnt: Tolle Produkte, tolle (eigene) Marken, die nahezu durchgehend mit „gewöhnlichen“ Markenartiklern mithalten können.
Folge der Entwicklung ist für viele Marken in der Mitte mit wenig Profil oder Mehrwert, dass sie sich anhaltend in der „Sandwich-Position“ befinden (vgl. Abb. 1). Die Mehrzahl der Markenartikler denkt mit Wehmut an die Zeit zurück, in der der Handel sich ausschließlich über Preiseinstiegsangebote gegenüber dem Markenartikler profilieren wollte und auch konnte. Da kannte man noch Roß und Reiter, Freund und Feind. In Zeiten der Mehrwert-Eigenmarken des Handels wird die oftmals seit Jahrzehnten hochgehaltene und immer wieder selbstähnlich inszenierte Eindimensionalität des Markenartikels zum Handicap. Aus ehemaligen starken „Markenwurzeln“ wurden nicht selten „Bleifüße“, die es heute erschweren, die erstrebenswerte Leichtigkeit des Seins einer relevanten Markenbotschaft auf Augenhöhe für den Verbraucher zu inszenieren.
Da hat es der Handel leichter. Er braucht auf zurückliegende Inszenierungen kaum Rücksicht zu nehmen, weil es sie nicht gibt. Er kann zusammen mit den besten Agenturen Neuinszenierungen auf Höhe der Zeit passend zu seiner Retailbrand inszenieren. Und – er hat die Bühnen und verteilt die Platzkarten für alle Ränge.
Was Eigenmarken stark macht
Der Marktanteil von preisaggressiven Handelsmarken stieg unaufhörlich. Das Wachstum der Mehrwert-Eigenmarken setzte sich bei vielen Kategorien noch oben drauf. In vielen Kategorien ist der Markt für die klassische B- oder C-Marke längst verloren, denn laut aktueller Statista-Analysen
stellen >85% aller Konsumenten die gleiche Qualitätsanforderungen an Handelsmarken wie an Markenartikel
hält bereits für rund 75% aller Verbraucher das Aussehen von Eigenmarken mit denjenigen von Markenartiklern mit,
lässt sich für >65% aller Konsumenten der hohe Qualitätsstandard von Eigenmarken über gute Testurteile von Stiftung Warentest und Ökotest belegen.
Laut LZ-Umfragen schwindet das unabdingbare Vertrauen der Verbraucher in Markenartikel Jahr für Jahr: Mehr als 60% aller Konsumenten erwarten demnach auf faktischer Ebene kaum noch Unterschiede zwischen einer Marke und einer Eigenmarke des Handels. Eine anhaltende Erosion der Markenloyalität ist aufgrund vielfältiger Verbraucherentwicklungen schon jetzt vorhersehbar!
Bislang (er-)kennt der Verbraucher die meisten Eigenmarken des Handels (noch) nicht. Ungestützt wissen für die meisten Kategorien noch zu wenig, wie die Schokoladenmarke von LIDL, das Premium-Dessert bei EDEKA, der Wurstaufschnitt bei ALDI oder die Marmelade von Kaufland heißt. Auch die gestützte Zuordnung von Eigenmarken nach Händlern erfolgt noch nicht in den von Handelsseite intendierten Bahnen. Am Beispiel von Desserts erkennt man, dass die meisten Eigenmarken noch nicht ausreichend verankert sind (Abb. 2): Eigenmarken mit Namensbezug zum Retailor (REWE beste Wahl, PENNY, K-Classic) haben es logischerweise einfacher. Auch gekaufte „weiße“ Marken wie „JA!“ und „Gut & Günstig“ sind beim Verbraucher gelernt. „Desira“ von ALDI weist dabei schon erste Anzeichen einer „Markierung“ auf: Desira klingt nach „desire“ und Desserts, die begehrt werden. Der Verbraucher dekodiert „Desira“ eindeutig mit Dessert – bei King Frais, Meierkamp oder Flile tun sich Verbraucher aber schwer mit der Zuordnung der Namen zu Dessert und Händlern. Würde der Handel stärker mit psychologischen Insights arbeiten, wären die Konsequenzen für viele Markenartikler ohne Profil noch viel nachhaltiger (negativ) wirksam.
Der rasende Zug beim Anstieg der Eigenmarken mit eigenem Profil lässt sich längst nicht mehr aufhalten: Dem Handel ist es immer besser gelungen, Vertrauen beim Verbraucher zu etablieren. Gerade die Konsequenz in den Aktivitäten von LIDL seit 2015, sowie die medialen Ausgaben des Handels der letzten Jahre weisen darauf hin, dass der Handel auch insgesamt mehr tut als die Markenartikler. Im Jahr 2014 hat laut Nielsen der Handel 3,6 Mrd. € in Media Spendings gesteckt, die Markenartikler gaben dagegen nur 2,0 Mrd. € aus (Abb. 3).
Im Zuge der „Vertrauen schaffenden“ Kommunikationsmaßnahmen des Handels werden auch die Auftritte der Eigenmarken optimiert: Eine Ehrmann-Verpackung ist heute schon nicht mehr zwingend schöner als die besten Joghurt-Verpackungen von Eigenmarken. Der Preis ist ohnehin schon vergleichbar. Aber das nicht nur im Konsumsegment, sondern auch schon im Premium-Bereich: Schokoladenspezialitäten von REWE Feiner Welt oder Moser Roth sind in der Wahrnehmung
hochwertig und ein Wertigkeitsunterschied gegenüber Lindt lässt sich über den Packungsauftritt allein nicht mehr erklären.
Die Kombination von wirksamer Kommunikation, immer attraktiveren Packungsauftritten und der Distributionsmacht des Handels liefert eine einmalige Inszenierungsplattform für Eigenmarken. Im Gegensatz zu vielen Markenartiklern besitzt der Handel eine Pole-Position für ein mehrdimensionales Markenerleben. Insbesondere die Unabhängigkeit bei der Gestaltung der Erlebbarkeit am POS wird in Zukunft Wahrnehmung und Kaufanreize der Verbraucher noch stärker als bisher beeinflussen. Mit lifestyle-gerechten Eigenmarken-Konzepten zu den Trendthemen unserer Zeit wie Regionalität, Vegan, Free from (ver-)schafft sich der Handel zwischenzeitlich deutlich schneller als der Markenartikler auf breiter Ebene Zugang zu den Herzen und Geldbeuteln der Verbraucher.
Zudem erlaubt die POS-Hoheit die Gestaltung produkt- und kategorie-übergreifender Markenwelten. Dabei favorisiert der Vollsortimenter Kommunikation, die Dachmarkenwelten schafft und Unternehmenshaltung verkauft, während alle Discounter auf die Faszination von Produktwelten setzen, die den Endverbraucher die Kompetenz der (horizontalen) Markenwelten spüren lässt.
Damit Marken auch morgen stark bleiben
Markenartikler haben es aufgrund der zunehmenden Aktivitäten des Handels und dem Erstarken der Eigenmarken schwerer als vor 20 Jahren. Der guten alten Zeit nachzutrauern, hilft genauso wenig weiter wie ein Verharren in Tatenlosigkeit. Ein zentraler Grund für den Niedergang vieler Marken und der dahinter stehenden Markenloyalität liegt letztlich in einer zu wenig proaktiven Kundenpflege. Viele Markenartikler büßen deshalb dafür, dass sie allzu lange das Beziehungsmanagement (Marke-Mensch-Interaktion) vernachlässigt hatten.
Dabei könnten sich Markenartikler die Vielzahl an Kontaktmöglichkeiten gezielt für ihre Kundenpflege nutzen. Die Größe oder Marktbedeutung ist hierbei gar nicht so entscheidend. Viel wichtiger ist, dass die Marke etwas tut, sich bewegt und den Austausch mit dem Verbraucher ernsthaft sucht. Wenn es dann gelingt, über spezifische Kanäle mit dem Verbraucher in den Dialog zu treten, dann kann das für die Markenführung nachhaltiger und zielführender sein, als etwa kommunikativ „in die Fläche“ zu gehen. Das zeigt aktuell auch die Wiederbelebung der deutschen Bierszene: Regionalen und lokalen Herstellern und Angeboten gelingt es immer besser, ihre Produkte Nachfrage-induziert und wertschöpfend zu verkaufen als bei den meisten massenmedial gesteuerten Großbrauereien.
Die vermeintliche Kleinheit gegenüber Großkonzernen kann dann eine Stärke sein, wenn der Markenführung auch eine belegbare Werthaltung zugrunde liegt. Eigentümer geführte Unternehmen können das i.d.R. besser als anonyme, multinationale Großbetriebe. Entscheidend ist aber, dass diese Werthaltung auch konsequent erlebbar gemacht wird. Auch Regionalität, Handwerklichkeit und Familiarität sind Werte, die vermeintlich kleinere Hersteller authentischer leben können.
Gelebte Werte haben auch etwas mit Qualität zu tun. Es wird dann nicht nur ein x-beliebiges Produkt verkauft, sondern eines, das den Kategoriebedürfnissen entspricht, aber über glaubwürdige Leistungsversprechen geadelt wird. Erfolgreich zu beobachten bei Marken wie Seeberger, Berchtesgadener Land, Augustiner/Tegernseer, fritz-kola, Camille Bloch, Hohes C, Dr. C. Soldan’s Em-eukal, Seitenbacher, u.a. – der Preis steht bei diesen Marken niemals im Vordergrund!
Ein branchenübergreifendes Patentrezept gibt es leider nicht. Sonst hätte dies der Handel bereits für seine Interessen ausgeschlachtet. Empathie gehört auch weiterhin zum Rüstzeug jedes erfolgreichen Marketiers, denn Marken müssen die Zeichen der Zeit verstehen und weit aktiver als früher Motive,
Bedürfnisse, Verfassungen ihrer Zielkunden bedienen, mit glaubwürdigen, attraktiven und interaktiven Markenwelten erlebbarer machen und auch deutlich häufiger positiv überraschen. Das
grüne Segelschiff wäre längst gestrandet, wäre es nicht gelungen, im Produktbereich einerseits, aber auch in der interaktiven Inszenierung der Kommunikationswelt frischen Wind hinter die Segel zu bringen.
Vieles ist wandelbar. An Plätzen aber, wo sich zu viele Angebote tummeln, wird die Luft notgedrungen enger. Und Sauerstoffmangel kann zum Kollaps führen: Auch bei Marken, die der Lethargie verfallen und in ihrer Austauschbarkeit eher zu Handlungen getrieben werden, anstatt einen Markt antreiben zu wollen. Zeit wird’s, dass auch in gesättigten Märkten Marken ihre ureigenste Funktion wieder aufnehmen und Werte schaffen. Sonst bleibt wohl für viele Anbieter nur noch die Auslistung durch den gestaltenden Handel.